Freitag, 3. Juni 2011

weites land, großer himmel

Ganz früh am Morgen schon sind sie losgefahren. Teddy lotst Sonja über Schleichwege zum Ziel. Über die alten DDR-Agrarwege, zwei parallel laufende schmale Bahnen aus Betonplatten, querfeldein. Die beiden reden nichts. Sonja ist überwältigt von der Landschaft, kann sich gar nicht satt sehen an ihrer neuen Heimat. Weites Land, großer Himmel, klare Luft, Tau glitzert an den Gräsern, immer wieder rot und orange leuchtende Laubwälder. Sie fahren an Hecken vorbei, an kleinen Seen, an abgeernteten Kornfeldern, hier eine verfallene Scheune, dort ein verlassenes Feldsteinhäuschen. Und das alle in jenes warme flammrote Morgenlicht getaucht, das für dieses Land so typisch ist.
Teddy döst auf dem Beifahrersitz vor sich hin. Gestern ist Freizeit gewesen. Sonntag. Und als er sich endlich in die Federn legt, war es schon seit ein paar Stunden Montag. Trotz seines Schlafmangels schafft er es, sich jedes Mal rechtzeitig vor der nächsten Abzweigung kurz mit verschwommenem Blick zu orientieren. Dann schließt er die bleischweren Augendeckel sofort wieder und brummt sein «links», «rechts», «drüber», gefolgt von Sonjas «okay», «jup», «mach ich».
Gerade hebt er wieder ein halbes Augenlid. «Da links, nach der Scheune.» Doch Sonja antwortet diesmal nicht. Teddy öffnet auch das zweite Auge und blickt zu ihr herüber. «Wat is denn mit dir auf einmal los?», fragt er ungläubig. «Mensch, Sonja, heulst du etwa?»
«Nein», schnieft sie und wischt sich über die nasse Wange. «Ich freu mich.»
«Läuft dir immer Wasser aus die Augen, wenn de dir freuen tust?»
«Nein, nur wenn es sehr viel Freude ist, so wie jetzt.»
«Na, na, na, wir kieken uns doch bloß ’n paar olle Schafe an, wa?»
«Aber, Teddy, dieses Land, es ist so schön, alles so wunderschön, siehst du das nicht?»
«Wat is hier schön?»
«Alles, das Land, die Felder, die alten Gebäude, einfach alles.»
«Diese versifften Katen und die ollen Äcker? Schön? Du hast se nicht mehr alle.»
Spricht’s und nickt wieder ein.
«Sonja?», meldet er sich einige Kilometer später.
«Hm?»
«Schon in Ordnung, dass de meine Heimat schön finden tust. Isse ja schließlich auch, wa?»

Aus: Was wir nicht haben, brauchen sie nicht. Dieter Moor. Rowohlt Taschenbuch-Verlag, 2010 (9. Auflage). Seite 240f.

Zitat

Wir können vor lauter Angst nicht auf Zehenspitzen durchs Leben schleichen

Musik


Sophie Hunger
The Danger Of Light

Brandenburgische Wörter

(1) kaupeln (2) Plins (3) wa (4) lutschen (mit langem u) (5) nich (6) luntschen (7) tikschen (8) nüscht (9) zutschen (10) rückzu (11) schlurfen (12) schnurpsen

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